Gerechtigkeit für die Betroffenen - Gerechtigkeit innerhalb der Kirche

Der Herbert Haag Preis 2022 wurde am Sonntag, 13. März 2022, 15.30 Uhr in der Lukaskirche, Luzern verliehen und rückt die Auseinandersetzung mit dem Machtmissbrauch in der katholischen Kirche ins Zentrum. Den Preis erhalten Menschen, die Opfer sexuellen und geistlichen Missbrauchs geworden sind, die ihre traumatischen Erfahrungen öffentlich gemacht haben und die sich persönlich für die Aufarbeitung dieses Jahrtausend-Skandals einsetzen.

Mit je 10'000 Franken oder Euro ausgezeichnet wurden:
1) Matthias Katsch, der Begründer der Initiative «Eckiger Tisch» (Offenburg) sowie die Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz (Johanna Beck, Kai Christian Moritz und Johannes Norpoth);
2) Jacques Nuoffer für die westschweizerische Opfervereinigung Sapec und Albin Reichmuth für die Deutschschweizer Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld;
3) die Theologin und Philosophin Doris Reisinger aus Frankfurt;
4) der Wiener Theologe Prof. Wolfgang Treitler.

Stimmen aus der Presse

Fotos: Vera Rüttimann
Copyright: Herbert Haag Stiftung

Stimmen aus dem Stiftungsrat zur Preisvergabe

Dr. Odilo Noti, Stiftungspräsident

« Kein Preis kann das Leid aufwiegen, das den Opfern des Missbrauchs durch die Kirche zugefügt worden ist. Mit der Preisverleihung formuliert die Herbert Haag Stiftung jedoch eine klare kirchenpolitische und theologische Option: Im Zentrum der Aufarbeitung dieses Jahrtausend-Skandals stehen die Opfer und die Überlebenden kirchlichen Missbrauchs, nicht die Interessen der Institution.
Zugleich will die Stiftung den Einsatz der Preisträgerinnen und Preisträger würdigen. Sie versteht den Preis als Zeichen des Respekts und der Unterstützung. Und es geht ihr um Gerechtigkeit für die Betroffenen und um Gerechtigkeit innerhalb der Kirche.
 »

Prof. Dr. Irmtraud Fischer, Stiftungsrätin

« Um Missbrauch in der Kirche aufzudecken musste man noch bis vor ein, zwei Jahrzehnten mutig sein. Sich aber als Opfer von Missbrauch zu outen, dafür braucht es bis heute Courage. Wer deklariert sich heutzutage gerne als „Opfer“, noch dazu, wenn man in kirchlichen oder kirchennahen Strukturen seinen Lebensweg oder seine Karriere situiert hat? Der diesjährige Herbert Haag-Preis ehrt Menschen, die über das erlebte Grauen reden und damit andere auch dazu ermutigen oder sogar vor Ähnlichem bewahren können. »

Prof. Dr. Sabine Demel, Stiftungsrätin

« Unsere PreisträgerInnen haben - teilweise jahrzehntelang - in der Kirche das Schrecklichste erlebt. Ihre physische und psychische Integrität ist auf niederträchtige Weise und in unvorstellbarer Weise verletzt und beschädigt worden. Sie hätten allen Grund gehabt, dieser Kirche den Rücken zu kehren. Sie tun es aber nicht. Sondern sie bleiben und treten für Veränderungen ein. Sie überlassen trotz allem ihre Kirche nicht einfach den Anderen, sondern stehen mit Ihrer Person dafür ein, dass weder das Resignieren gefragt ist noch das Herausreden auf andere, sondern einzig und allein: der betroffene Mensch.  »

Prof. Dr. Ute Leimgruber, Stiftungsrätin

« Es ist schwer, über den erfahrenen Missbrauch zu sprechen, und es ist gefährlich, dies in der Öffentlichkeit mit dem eigenen Namen zu tun. Doch es wird sich weder Wahrheit noch Gerechtigkeit einstellen, ohne dass die Betroffenen sprechen und ohne dass man den Überlebenden zuhört. Der diesjährige Herbert-Haag-Preis würdigt Menschen, die die Courage erwiesen haben, über die erlittenen Verbrechen zu reden, und damit all jene, die nicht (mehr) selbst reden können, nicht vergessen lassen. Ihre Botschaft ist klar: die Täter, die Kirche und die Theologie dürfen nicht aus ihrer Verantwortung gelassen werden. »

Hugo Keune, Stiftungsrat

« Wir sind den Opfern von Missbrauch dankbar für ihren Mut. Mit ihrem Zeugnis des Widerstands haben sie uns die Augen geöffnet. Gleichzeitig müssen wir uns fragen: Haben wir uns gutgläubig für eine moralisch verkommene Institution engagiert? Haben diejenigen, die Missbrauch begangen oder davon gewusst, aber nichts gesagt haben, den ultimativen Verrat begangen? Ultimativ darum, weil sie unter Berufung auf die Liebe Gottes zuliessen, dass die Kirche eine Stätte des Verbrechens wurde. Was uns die Preisträgerinnen und Preisträger klar machen: Es braucht Aufklärung ohne jede Vertuschung, notwendig ist Wiedergutmachung und eine Veränderung der kirchlichen Strukturen. »

Detailinfos zu allen Preistragenden 2022

Matthias Katsch (geb. 1963), aufgewachsen in Berlin-Neukölln, gehörte als Schüler der Berliner Jesuitenschule «Canisius-Kolleg» zu den Missbrauchsopfern der 1970er Jahre. 1983 begann er sein Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Theologie in Berlin und München (M.A.). Er arbeitet heute als Managementtrainer und Berater in betrieblichen Veränderungsprozessen. Seit mehr als zehn Jahren engagiert er sich prominent für die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Angehörige der Katholischen Kirche. Unter anderem ist er ordentliches Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Dank Matthias Katsch, unterstützt von Klaus Mertes SJ, wurde der Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg 2010 öffentlich. In der Folge gründete er mit anderen Betroffenen der Jesuitenschulen in Deutschland die Initiative «Eckiger Tisch», die Aufklärung, Hilfe, Genugtuung und eine angemessene Entschädigung fordert. Im Mai 2021 übergaben die Verantwortlichen des «Eckigen Tisches» dem Bundestag eine Petition mit 29’000 Unterschriften. Sie fordern die Einsetzung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission durch das Parlament, die «den Aufarbeitungsprozess für das jahrzehntelange systematische institutionelle Versagen in den Kirchen» begleiten solle. Zugleich brauche es eine unabhängige Anlaufstelle.

Johanna Beck (geb. 1983), ist Literaturwissenschaftlerin und studiert Theologie im Fernkurs. Als Kind und Jugendliche musste sie geistlichen und sexuellen Missbrauch durch einen Priester erleben. Vor ihrem «Outing» als Missbrauchsopfer hat sie als «Madame Survivante» im Internet getwittert und einen Blog betrieben, worin sie für die konsequente Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche eintritt. In der Folge veröffentlichte sie ebenfalls unter ihrem Pseudonym Offene Briefe auf feinschwarz.net.
Im Frühjahr 2020 wurde sie dann unter ihrem richtigen Namen aktiv und bewarb sich auch für den Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz. Johanna Beck sagt, ein zentrales Problem des Missbrauchsskandal sei, dass den Tätern und der Institution mehr Empathie entgegengebracht werde als den von Missbrauch Betroffenen. Als Mitglied des DBK-Betroffenenbeirats arbeitet sie seit Anfang 2021 beim Synodalen Weg mit und engagiert sich auch in diesem Rahmen dafür, dass der sexuelle und geistliche Missbrauch in der katholischen Kirche schonungslos aufgearbeitet wird. Am 14. März 2022 erscheint ihr Buch «Mach neu, was dich kaputt macht. Warum ich die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche». Johanna Beck lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.

Kai Christian Moritz (geb. 1976), deutsch-britischer Schauspieler, Sänger und Regisseur, legte sein Abitur 1995 ab- Er studierte Dramaturgie, Neuere Deutsche Literatur , sowie Englische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Bayerischen Theaterakademie August Everding, bevor er von 1995 bis 2000 mit dem Studium des klassischen Gesangs bei Peter Pöppel in München und von 1997 bis 2000 Schauspiel an der Neuen Münchner Schauspielschule bei Ali Wunsch-König seine Ausbildung beendete. Vom Jahr 2001 an bis heute arbeitete er durchgängig und schwerpunktmässig, neben einigen TV-Auftritten, am Theater. Seine Stationen waren hierbei München, Esslingen, Konstanz, Würzburg und Düsseldorf, er erhielt Gastauftritte in Gera/Altenburg und Saarbrücken. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich und gestaltet Solo-Performances in Form von Monologen, Rezitationen und Liederabenden.
Kai Christian Moritz wurde als Waisenkind von seinem Pflegevater, einem katholischen Priester, langjährig missbraucht. Zu seinem Engagement im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz äußert er sich: „Es gehe ihm nicht um eine «beliebige Betroffenheit, die wie ein süsser Zuckerguss zumeist der Entlastung der Mitleidhabenden und der Sich-Entschuldigenden dient … Doch wir glauben an den fortlaufenden Dialog und wollen auf möglichst breiter Basis Überlebende zu Wort kommen lassen, nicht zuletzt aus dem Respekt vor denen, die in ihrem Leid zerbrochen wurden.»

Johannes Norpoth (geb. 1967) ist Betroffener/Opfer sexualisierter Gewalt im Kontext seiner ehemaligen Heimatgemeinde in Essen. Der Sozialwissenschaftler engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in unterschiedlichen Funktionen in der katholischen Kirche, unter anderem als Diözesanvorsitzender des Kolpingwerks Diözesanverband Essen sowie als Mitglied im Bundesvorstand des Kolpingwerks Deutschland. Er gehört dem Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz an und dort zum insgesamt vierköpfigen Sprecherteam des Beirats. Er ist Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Johannes Norpoth betont, dass die Missbrauchskrise aus Sicht der Betroffenen nicht nur eine Krise des Klerus, sondern der gesamten katholischen Kirche sei. Deshalb müssten die Themen bearbeitet werden, die im Mittelpunkt des Synodalen Wegs stehen: Machtverteilung und Partizipation, die priesterliche Lebensform, die kirchliche Sexualmoral sowie die Rolle der Frau in der Kirche. Nur so könne es gelingen, dass die «hässliche Fratze der Kirche des Missbrauchs» der Vergangenheit angehöre und nicht ein Bild der Zukunft sei.

Dr. Jacques Nuoffer (geboren am 31. Juli 1945) war in seiner Jugend selbst Opfer von Missbrauch. Er studierte Heilpädagogik (Diplom 1969) und Psychologie (Diplom 1972) an der Universität Freiburg und promovierte 1987 in Psychologie. Beruflich begleitet er seit fast fünfzig Jahren Jugendliche und Erwachsene in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Zwischen 1973 und 1980 baute er den Orientierungsdienst der Freiburger Gymnasien auf und arbeitete ab 1982 bei der Berufsberatungsstelle Biel, wo er 1987 den zweisprachigen universitären Orientierungsdienst Biel-Seeland aufbaute. Ab 1994 übernahm er im Rahmen seiner privaten Teilzeitmandate einen Beratungs- und Unterstützungsdienst für bernische, ab 2005 für jurassische Lehrpersonen. Er führt in Nidau eine Praxis für Persönlichkeits- und Berufsentwicklung.
Jacques Nuoffer ist Mitbegründer und Präsident der französischsprachigen Groupe Sapec («Soutien aux personnes abusées dans une relation d'autorité religieuse»). Der politisch neutrale und konfessionell unabhängige Verein wurde 2010 gegründet. Er ist die älteste Opferorganisation der Schweiz. Hauptziel ist es, Menschen, die Opfer von Missbrauch im kirchlichen Umfeld geworden sind, Gehör und Unterstützung zu bieten. Die SAPEC-Gruppe setzt sich dafür ein, dass die Opfer Information, Anerkennung und Wiedergutmachung des erlittenen Missbrauchs erhalten. Aus diesem Grund hat die SAPEC-Gruppe mit Hilfe von Parlamentariern und Priestern 2015 die Einrichtung einer unabhängigen Kommission für Anhörung, Schlichtung, Vermittlung und Wiedergutmachung erreicht: die CECAR (Commission d'écoute, de conciliation, d'arbitrage et de réparation). Die SAPEC-Gruppe hat sich ausserdem bei den kirchlichen Behörden für die Entwicklung von Präventionsmassnahmen eingesetzt. Jacques Nuoffer ist mit Zustimmung des Vorstands seit 2014 Mitglied der SBK-Expertenkommission "Sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext" und bringt dort die Anliegen der Opfer ein.

Albin Reichmuth (geb. 1947), war Ministrant und neun Jahre alt, als sich der Pfarrer zum ersten Mal an ihm verging. Das Martyrium des Knaben dauerte sechs Jahre, von 1956 bis 1962. Während Jahrzehnten trug er seine Leidensgeschichte mit sich herum. Nach einem Burnout sprach er in einer psychotherapeutischen Behandlung zum ersten Mal darüber. 2018 wandte er sich an den Präsidenten des Kirchengemeinderats, der Opfer des Pfarrers aufrief, sich zu melden. In der Folge meldeten sich acht weitere Betroffene, bzw. Angehörige von bereits verstorbenen Opfern.
Albin Reichmuth machte in der Zeitschrift «Beobachter» seine Erfahrungen öffentlich. Er tritt für eine Aufklärung ohne Wenn und Aber ein. 2019 ruft er eine Selbsthilfe-Gruppe ins Leben und gründet einen Förderverein, die Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld. Die Interessengemeinschaft unterstützt die Selbsthilfe-Gruppe mit moralischer, finanzieller und fachlicher Hilfe. Zugleich beobachtet sie den Aufarbeitungsprozess der Schweizer Kirche kritisch und will auch bei der Präventionsarbeit gestaltend mitwirken.

Dr. Doris Reisinger (geb. 1983), Theologin und promovierte Philosophin, aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität, Frankfurt/Main und Mitglied im Forschungsprojekt: Gender, Sex and Power. Towards a History of Clergy Sex Abuse in the U.S. Catholic Church. Sie brachte als Betroffene sexuellen und spirituellen Missbrauch an Erwachsenen in der römisch-katholischen Kirche ab 2014 in die Öffentlichkeit.
Zu nennen sind ihre Publikationen, die auf grosse Resonanz stiessen: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau, Edition a 2014; Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2019. Das mit dem deutsch-britischen Regisseur Christoph Röhl veröffentlichte Sachbuch: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger, Piper 2021; sowie der gemeinsam mit Christoph Schönborn veröffentlichte Dialogband: Schuld und Verantwortung, Herder 2019; und der Tagungsband: Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Pustet 2021.
In Büchern, Interviews, Aufsätzen und Vorträgen engagiert sich die international anerkannte Fachfrau vor allem zu den Themen spiritueller Missbrauch, Missbrauch von Erwachsenen und missbrauchsfördernde Strukturen der katholischen Kirche. Unter anderem regte sie die Beratungsstelle der DBK zu Gewalt gegen Frauen in Kirche und Orden an und berät die Initiative «Voices of Faith».

Dr. Wolfgang Treitler (geb. 1961) wurde als Schüler eines katholischen Gymnasiums Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Lehrer. Nach dem Abitur studierte er Theologie, von 1980 bis 1985 Religionspädagogik in Sankt Pölten und Wien. 1996 wurde Wolfgang Treitler Dozent für Religionswissenschaft an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten. 1998 habilitierte er sich an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für das Fach Fundamentaltheologie. Seitdem ist er dort ausserordentlicher Universitätsprofessor.
Nachdem er den Missbrauch in der Novelle «Sehr gut» (Achínoam Verlag, Perchtoldsdorf 2017) öffentlich gemacht hatte, reflektierte er seine Erfahrungen auch theologisch und beschäftigte sich in Lehre, Forschung und Publizistik mit dem kirchlichen Missbrauch. Er hat kürzlich (zusammen mit Gunter Prüller-Jagenteufel) unter dem Titel «Verbrechen und Verantwortung» einen umfangreichen Sammelband zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen herausgegeben (Verlag Herder, Freiburg 2021).